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s gibt nichts Angenehmeres, als an einem heißen

Sommertag unter einem verzweigten Baum zu sitzen, aus einem Tonkrug kalten Apfelwein zu trinken und die Reisenden zu beobachten. Vor allem, wenn sich der Tag dem Ende zuneigt und jemand einen erschöpften, voll beladenen Grauschimmel am Zügel vorbeiführt, der eindeutig von weit her kommt – zum Beispiel aus Arsong oder aus Bossgard.

»Der Junge ist müde«, sagte einer der Beobachter, ein durch und durch respektabler Zimmermann. »Vielleicht der Gehilfe eines Kaufmanns.«

»Glaub ich nicht. Dafür ist sein Blick zu ehrlich und unverstellt«, widersprach sein Freund, der wegen des Mangels an fester Arbeit und damit an Geld auf Kaufleute nicht gut zu sprechen war. »Krieg ich noch was?«

Über dem Einschenken des Apfelweins entging ihnen, wie der Junge das Pferd auf eine Straße hinauf zum Berg lenkte. Oberhalb des Flusses lagen die reicheren Häuser, dort lebten zwar noch keine Adligen, aber eben auch keine Handwerker mehr. Statt ein paar spärlicher Bäume vor dem Haus gab es hier zur Straße hin Zäune und nach hinten raus grüne Gärten. Je nach Reichtum und Ehrgeiz der Besitzer waren die Gärten mal mit den in jeder Hinsicht nützlichen Apfel- und Pflaumenbäumen bepflanzt, mal mit schönen Zierhölzern, die sich jedoch nur verfeuern ließen.

Nach einem Blick auf ein Blatt Papier, auf das Meister Sauerampfer den Weg akkurat eingezeichnet hatte, steuerte Trix einen vor Altersschwäche gebeugten Zaun an, dessen weiße Farbe schon vor langer Zeit grau geworden war und nun abblätterte. Die Pforte war bloß mit einem Kantholz verschlossen und ließ sich problemlos von außen öffnen. Büsche und Bäume verbargen das tief im Garten stehende kleine Haus weitgehend. Obwohl es für jeden ersichtlich leer gestanden hatte, waren die Scheiben nicht eingeschmissen, hatten die Blumenbeete noch nie mit der Schere eines Diebs Bekanntschaft geschlossen. Das war nicht weiter verwunderlich, denn durch den Garten flog ein auch bei Tage gut zu erkennendes Wachlicht. Kaum hatte Trix die Pforte geöffnet und war eingetreten, sauste es auf ihn zu. Trix blieb stehen.

Wachlichter sind keine Seltenheit, jeder schwache Magier bringt sie zustande. Und jeder reichere Bürger kann sie sich zulegen. Mit etwas Geschick und Kraft kann ein Dieb es sogar täuschen und löschen – mal mit einem Hemdsärmel aus Salamanderleder, mal mit einem Eimer Wasser. Aber gegen Jungen, die Blumen klauen, oder gegen kleine Diebe, die von jedem verlassenen Haus angezogen werden, schützt so ein Licht recht gut.

Das Licht war so groß wie eine Apfelsine, ebenso orange, nur nicht fest, sondern durchscheinend, als bestünde es aus brennender Luft. Mit etwas Fantasie konnte man in ihm ein Gesicht ausmachen.

»Mich schickt dein Herr«, sagte Trix. »Hier ist sein Zeichen, hier ist sein Ring, hier ist ein Papier mit seiner Unterschrift.«

Das Feuer drehte sich über Trix’ ausgestreckter Hand. Der Daumen des Jungen war hochgereckt – das war das Zeichen. Auf dem Daumen saß ein etwas zu großer, schlichter Silberring. Und die vom Meister erstellte Karte trug den eleganten Schriftzug seiner Unterschrift. Zufrieden berührte das Licht das Papier, worauf dieses aufloderte und unverzüglich in Trix’ Hand zu Asche zerfiel. Das Licht leuchtete heller auf und flog davon, um weiter durch den Garten zu patrouillieren. Einige Magier hatten ihren Lichtern noch weitere Aufgaben zugedacht: den Weg weisen oder in der Dunkelheit Licht spenden zum Beispiel. Aber Sauerampfer war der Meinung, dass ein Wachposten, der sich noch mit anderen Dingen beschäftigte, nichts taugte.
Trix führte das Pferd über einen Sandweg zum Stall. Mit einem Seufzer machte er sich ans Abladen der Taschen. Wie gesagt, die Arbeit eines Zauberlehrlings besteht zu neunzig Prozent aus Auspacken, Abwaschen und Aufräumen.
Eine Stunde später war das Pferd gestriegelt und gefüttert und das Gepäck ins Haus gebracht. Trix schüttete das abgestandene Regenwasser aus einer Schüssel an der Vortreppe aus, schöpfte dann – welch Luxus! – frisches aus dem Brunnen im Garten, brachte es ins Haus, zog sich, nachdem er ein »Guck weg!« Richtung Jackentasche gezischt hatte, aus und wusch sich. Radion hatte dafür gesorgt, dass er noch ein sauberes Hemd und saubere Hosen dabeihatte. Als er sich in dem kleinen Spiegel in der Diele anschaute, war er mit dem Resultat durchaus zufrieden.
Natürlich war Trix in der Woche, die seit seiner Flucht und Verbannung vergangen war, nicht sonderlich gewachsen. Offen gesagt war er überhaupt nicht gewachsen. Doch sein Blick war ernster, sein Mund entschlossener. Er war immer noch ein Junge – aber kein weltfremder Höfling mehr.
Bei seiner Ankunft in Dillon war Trix absolut sicher gewesen, dass er im Haus von Sauerampfer sofort ins Bett fallen und einschlafen würde. Oder höchstens noch ein paar Äpfel und etwas Brot essen würde. Nachdem er sich gewaschen und umgezogen hatte, war er jedoch voller Tatendrang und überhaupt nicht müde. Er wollte sich unbedingt die Stadt ansehen. Aus seiner Jacke strömte ihm beleidigtes Schweigen entgegen. Seufzend zog er sie an. In der Tasche rührte sich etwas.
»Pass auf!«, befahl Trix dem Wachlicht, als er die Pforte hinter sich schloss. »Ich bin bald wieder da.«
Das Licht brauchte natürlich keinerlei Ermahnungen, und ob Trix zurückkehrte oder nicht, war ihm völlig egal. In dem alten, verwilderten Garten hatte Trix jedoch unbedingt etwas sagen wollen.
Trix hatte den Eindruck, in den Häusern am Hang des Hügels lebten Menschen, die genug vom Gewusel in der Stadt hatten oder nur für kurze Besuche hier Quartier bezogen. Deswegen waren die Häuser klein und häufig unbewohnt (nur hier und da patrouillierte ein Wachlicht) und keine Menschenseele zeigte sich.
Er könnte hinunter zum Fluss gehen, wo das Volk bis weit in die Nacht am Ufer entlangflanierte, Händler Essen und Trinken anboten und Illusionisten oder Akrobaten versuchten, etwas Geld zu verdienen. Oder er könnte die dunkle Straße – nur an wenigen Kreuzungen brannten Laternen – hinaufgehen. Dann würde er zu den reichsten Häusern der Stadt kommen, möglicherweise sogar zum Fürstenpalast.
Natürlich könnte er auch kehrtmachen und doch schon ins Bett gehen. Im Haus hatte Trix ein paar Kerzenstumpen und zwei Bücher entdeckt: Enzyklopädie der Irrungen eines Zauberlehrlings und Chronik des Fürstentums Dillon.
Trix ließ sich die Sache kurz durch den Kopf gehen. »Annette?«, sagte er.
»Liebling?« Das Gesicht der Fee tauchte sofort aus der Tasche auf. »Soll ich für dich tanzen? Der Mond ist zwar noch nicht aufgegangen …« Falls sie Trix noch grollte, weil sie die ganze Reise über hatte in der Tasche zubringen müssen, ließ sie sich das nicht anmerken.
»Ich überlege gerade, wohin wir gehen. Runter zum Fluss? Oder den Berg hoch? Oder sollen wir zu Hause bleiben?«
»Mit dir, Trix, ist es überall schön!«
»Toller Rat!«
Die Fee runzelte die Stirn und sah die Straße hinunter. »Da ist es lustig«, sagte sie. »Du kannst heiße Küchlein mit Marmelade kaufen oder Pfannkuchen mit Sirup. Du musst gut essen, Trix, du bist noch im Wachstum!«
Angesichts dieser Fürsorge verzog Trix zwar das Gesicht, die Erwähnung der Backwaren stellte aber ein gewichtiges Argument dar. In Dillon wurden alle zu Süßschnäbeln, vermutlich aufgrund der Zauber, die beim Bau der Stadt gewirkt worden waren.
»Gut, dann nach unten«, entschied Trix. »Aber bleib in der Tasche! Noch braucht niemand zu wissen, dass ich ein Zauberer bin!«
Wenn Trix älter und erfahrener gewesen wäre, hätte er sich an die Bauernweisheit erinnert: Hör auf das, was eine Fee sagt – und mach genau das Gegenteil! Denn was für Abenteuer hätten auf ihn gewartet, wenn er den Berg hinauf gewandert wäre! Sagenhafte Abenteuer, die der Feder der großen alten Erzähler wert gewesen wären!
Aber er ging hinunter, und so werden wir nie erfahren, warum der Wesir von Samarschan befohlen hat, seine liebste Konkubine zu köpfen, wer Baghira der Großherzige war und weshalb der Diamant der Konzentration so berühmt ist. Vielleicht erzählt jemand anders irgendwann diese Geschichten, denn ich muss mich für die Beschreibung von Backwaren bereithalten.
Je näher Trix zum Fluss kam, desto mehr Menschen begegneten ihm. Rechtschaffene Bürger trafen sich bei einem abendlichen Krug Bier oder Apfelwein auf den Wiesen, ihre Sprösslinge fuhrwerkten mit kleinen Schwertern, Bällen, Kugeln, Steinen und Stöcken, spielten Dillon sucht den Schnellschaufler oder Entfesseln im Sturm. Trix ging an den Kindern vorbei, wie es sich für einen erwachsenen und ernsten Mann ziemt: mit einem herablassenden Lächeln. Nur einmal konnte er der Versuchung nicht widerstehen und kickte einen plumpen Ball weg, der ihm vor die Füße gerollt war.
Die Promenade begann an einem kleinen Platz, in dessen Mitte ein bronzenes Denkmal stand, eine nackte Maid mit widerspenstigem Haar, die auf einem stattlichen Pferd saß. Sie hatte die Arme vorgestreckt, auf ihren Lippen lag ein Lächeln, das vermuten ließ, nicht nur das Haar, sondern auch seine Besitzerin sei ziemlich widerspenstig.
Trix, der bereits ahnte, was für ein Denkmal das war, trat ans Postament heran und las: Der edlen und großherzigen Fürstin Codiva von ihren dankbaren Bürgern.
Die Fürstin Codiva war die Großmutter der minderjährigen und deshalb noch nicht regierenden Tiana. Sie war vor fünfzig Jahren zu Berühmtheit gelangt, und zwar als ihr Mann, der regierende Fürst, beschlossen hatte, die Steuern auf Salz, Streuzucker und Schwefelhölzer zu erhöhen. Obwohl das Volk in seiner Empörung mit einem Aufstand drohte, blieb der Fürst stur. Und als ihn die Fürstin bat, dem Volk nachzugeben, sagte er, der ein ausgesprochener Spaßvogel war: »Wenn du nackt auf der Promenade erscheinst, verzichte ich auf die Erhöhung!«
Viele glaubten, der Fürst habe darauf gehofft, Codiva würde sich eine der zahllosen Lücken zunutze machen, die seine Forderung ließ. Zum Beispiel hätte sie nackt am Fluss erscheinen können – aber in einer Kutsche oder Sänfte. Oder sie hätte ihr prachtvolles Haar öffnen und sich damit bedecken können. Oder in tiefster Nacht kommen und vorab der Wache den Befehl erteilen können, alle Gaffer zu vertreiben. Kurz gesagt, Codiva hatte jede Menge Möglichkeiten. Sie nutzte keine davon. Die Herzogin sattelte eine schneeweiße Stute, jagte zum Ufer und ritt die Promenade hinauf und hinunter. Absolut nackt. (Vorsichtshalber hatte sie sogar die Haare zu einem dicken Knoten aufgesteckt.)
Daraufhin hob der schockierte Fürst die Steuern für Salz, Streuzucker und Schwefelhölzer gänzlich auf und gab sich die nächsten anderthalb Wochen dem Suff hin. Als er wieder nüchtern war und sich mit seiner Gattin aussöhnen wollte – sie war nach dieser Heldentat zum Liebling des Volkes geworden –, verlangte diese, er solle auch die Steuern für Seife aufheben, damit »unsere Untertanen sauber sind und Krankheit vermeiden«. Der Fürst stellte sich erneut stur wie ein Troll, den man unter einer Brücke weg- und ans offene Tageslicht jagen wollte. Die Fürstin zog sich prompt wieder aus, begab sich nackt auf einen Spaziergang durch die Stadt und erklärte, sie kehre nicht eher zurück, bis ihre Forderung erfüllt sei.
Da der Fürst seine Frau aufrichtig liebte, hob er die Steuern für Seife auf, worauf es in der Tat weniger Epidemien gab. Die Männer verlangten von ihren Frauen jetzt nämlich, eine ebensolche Reinlichkeit an den Tag zu legen wie die edle Fürstin, und fingen auch selbst an, sich fast regelmäßig einmal die Woche zu waschen.
Die Geschichte weiß noch von zwei ähnlichen Heldentaten Codivas zu berichten. Einmal ging es um die Errichtung einer Volksschule für Kinder aus den armen Vierteln, einmal um den freien Zugang zu einem Stück Strand. In allen anderen Fällen schaffte es die Wache des Fürsten, die Fürstin am Palasttor aufzuhalten.
Das weitere Schicksal von Codiva ist recht nebulös. Angeblich erkrankte sie schwer, danach sei ihr herrlicher Körper durch die Heiltätowierungen der Zauberer entstellt gewesen. Vielleicht stimmte das sogar. Auf alle Fälle genoss die Gilde für magische Zeichnungen nach der Genesung Codivas die Gunst des Fürsten. Codiva dagegen trug bis ans Ende ihrer Tage nur noch bodenlange Gewänder und gestattete es sich nur selten, den Rock zu raffen, um einem Pagen ihren linken Fuß zu zeigen, der, wie es hieß, einzige Teil ihres Körpers, auf dem durch einen Fehler der Zauberer weder eine Spinne noch ein Skorpion oder ein anderes Scheusal prangte. Drei Jahre später entschlief sie sanft, nachdem sie dem Fürsten einen Erben geboren hatte. Sie soll auf eigenen Wunsch nackt und in einem Kristallsarg bestattet worden sein. Aber solche Sachen werden berühmten Leuten ja immer nachgesagt, oder? Seine nächste Frau suchte sich der Fürst in einem fern gelegenen Bergdorf. Die Frauen dort waren für ihre Bescheidenheit und Sittsamkeit berühmt und trugen einen Schleier aus dunklem Mull vor dem Gesicht.
Doch so oder so, der Magistrat der Stadt erklärte jedenfalls kurz nach Codivas Tod, er wolle Mittel für ein Denkmal sammeln. Diesmal beugte sich der Fürst dem Willen des Volkes. Dieses kam ihm allerdings so weit entgegen, dass der Körper der Fürstin durch ihr offenes Haar verdeckt wurde – womit (und durchaus nicht zum ersten Mal) die Moral über die Wahrheit triumphiert hatte.
Trix wiederum sei zugutegehalten, dass er sich weniger für die schlanke Figur der Fürstin interessierte als vielmehr Gefallen an ihrem Gesicht fand. Die Frau auf dem Pferd sah sehr lieb aus, auch wenn sie, zugegeben, schon ziemlich alt war, bestimmt schon über zwanzig.
Er umrundete das Denkmal und strich über den Schweif des Pferdes. Von vielen Händen ganz blank, sollte er der Legende nach jedem, der ihn anfasste, Glück in der Liebe bringen. Noch größeres Glück brachte allerdings eine nächtliche Begegnung mit dem Gespenst der Fürstin, das, glaubte man den Gerüchten, in jeder Nacht vor einer Steuererhebung über die Uferpromenade reitet und den Herrscher lauthals zu Barmherzigkeit auffordert.
Allzu lange durfte Trix den Anblick der Fürstin freilich nicht genießen. Irgendwann zwickte ihn jemand durch das Loch in seiner Jacke und aus der Brusttasche flüsterte es: »Genug geglotzt! Für einen anständigen Jungen gehört es sich nicht, eine solche Schweinerei zu begaffen!«
»Ich glotze nicht!«, zischelte Trix. »Und überhaupt! Was geht dich das an?«
»Ich bin dein Familiar! Ich bin verpflichtet … verpflichtet …« Die Fee stockte. »Ich bin verpflichtet, mir Sorgen um dich zu machen!« Dann fügte sie noch völlig zusammenhangslos hinzu: »Außerdem habe ich noch nichts gegessen!«
Trix wurde verlegen. Er hatte tagsüber wirklich nicht einmal an Annette gedacht. »Na komm, ich besorg dir was«, versprach er.
In der Nähe des Denkmals hatten sich im Lichtkreis einer großen Öllampe die Händler aufgebaut, deren Angebot Trix eingehend studierte: Einer verkaufte Honigküchlein, ein anderer Rosinen und Nüsse, ein dritter cremegefüllte Waffelrollen. Trix kaufte alle Süßigkeiten – seine Taschen quollen ja über von unerlaubten Kupferlingen – und setzte sich auf eine kleine Bank unter den Bäumen, wo es dunkler war. Vorsichtig krümelte er ein Stückchen Honigkuchen, eine Rosine und eine Nuss, ja sogar etwas von der Waffelrolle in die Brusttasche.
»Oh«, sagte die Fee. »Meine Flügel …«
»Was ist mit ihnen?«
»Du hast sie mit Creme beschmiert!«
»Tut mir leid!«
Eine Zeit lang herrschte Stille. Trix knabberte an seiner Waffelrolle.
»Verzeih, mein Liebster, aber sind in der Nähe nicht vielleicht ein paar Blumen?«, fragte die Fee.
»Nein«, antwortete Trix. »Ich sehe keine. Und ich glaube auch nicht, dass hier in der Stadt Rauschkraut wächst!«
»Bestimmt nicht!«, sagte die Fee traurig. »Das erlaubt man nämlich nicht.« Sie streckte den Kopf aus der Tasche und sah sich um.
Bis auf die Süßigkeitenverkäufer und vereinzelte Pärchen – der Platz mit dem Denkmal für Codiva war einer der beliebtesten Treffpunkte von Verliebten – gab es nur noch einen gelangweilten, mageren Jungen, der gegen einen gewaltigen Ahornbaum gelehnt dastand und eine unbekannte Melodie pfiff. Ob er auf seine Freundin wartete? Mehrmals hatten ihn Leute angesprochen, die kaum älter waren als er selbst. Sie waren immer wieder schnell abgezogen, wobei sie sich etwas in die Tasche stopften. Deshalb hielt Trix den Jungen auch für einen Händler, wenn auch einen sehr zaghaften und faulen.
»Liebster, ich fliege ein wenig spazieren«, verkündete Annette.
»Du tust was?«
»Keine Angst, ich lenke alle Blicke von mir ab – alle bis auf deinen natürlich.«
»Das kannst du?«
»Wenn ich essen will, bringe ich einiges zustande«, brummte die Fee und kletterte aus der Tasche.
Mit stockendem Herzen beobachtete Trix, wie die Fee über den Platz zu dem Jungen hinflog. Der kleine Körper leuchtete sanft, ihn zu übersehen war im Grunde unmöglich.
Trotzdem achtete niemand auf Annette!
Nachdem die Fee einige Runden um den Ahorn gedreht hatte, schlüpfte sie dem Händler in die Tasche. Es verging eine quälende Minute. Trix knabberte nervös an seinem Honigkuchen.
Die Fee flatterte wieder aus der Tasche und kam zu ihm zurückgeflogen – nicht mehr in gerader Flugbahn, sondern als tanze sie in der Luft. Ab und an erklang ihr Gelächter, dieses feine und melodische Kichern.
Die Süßigkeitenhändler sahen sich verwirrt nach allen Seiten um und lächelten vorsichtshalber in Erwartung von Kundschaft.
»Was soll das!«, rief Trix, als Annette auf dem Rand der Tasche landete, die er ihr aufhielt. »Hör auf zu lachen! Es hören dich ja alle!«
»Wenn aber doch alles so lustig ist!«, sagte die Fee, hörte dann aber auf zu lachen. »Du … du … sei nicht böse! Willst du einen Kuss?«
»Was hast du gegessen?«
»Allerlei. Samarschaner Auslese, den doppelten Matrosen …«
»Willst du etwa behaupten, der Junge handelt mit Rauschkraut?«, fragte Trix entsetzt.
»Nein, mit Sägemehl!« Die Fee richtete sich zu voller Größe auf, schlug mit den kleinen Flügeln und versetzte Trix mit ihrer kleinen Faust einen Kinnhaken. »Wag es ja nicht, mir Vorschriften zu machen! Das ist halt … hihi … meine Natur!« Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht und purzelte auf Trix’ Knie, was einen weiteren Lachanfall ihrerseits auslöste. »Das ist die Creme! Die hat mir die Flügel verklebt!«, rief sie. »Gibst du mir was von dem Honigkuchen, Trix? Ich möchte jetzt unbedingt was Süßes!«
Trix schnappte sich Annette und setzte sie zurück in die Tasche, wo sie sich sofort über die Waffelkrümel hermachte. Er selbst stapfte entschlossen zu dem Jungen hinüber.
Natürlich hätte sich eigentlich die Stadtwache um den Rauschkrauthändler kümmern müssen. Aber diese Bohnenstange war kaum größer als Trix und wirkte völlig harmlos. Nach einem ordentlichen Schwinger würde er wissen, was es heißt, eine Fee vom rechten Weg abzubringen!
In seiner Wut vergaß Trix völlig, dass der Junge die Fee ja gar nicht gesehen hatte und von ihr (selbst wenn er ein schändliches Gewerbe betrieb) schlicht und ergreifend bestohlen worden war.
»Der junge Herr wünscht …«, brachte der Händler mit dünner Stimme hervor, als Trix auf ihn zukam. Dann verstummte er.
Trix erstarrte ebenfalls.
Vor ihm stand, in dunklem Hemd und dunklen Hosen, mit einer dunklen Mütze auf dem Kopf, die das rote Haar verbarg, Ian! Sein geflohener Knappe!
»Himmel, hilf!«, sagte Ian leise.
»Da kannst du lange drauf warten«, polterte Trix. Am Ende behielten die Chroniken eben doch recht: Das Schicksal bestraft Verräter hart. »Du hast deinen Herrn verraten!«
»Was denn?«, mischte sich die Fee neugierig ein. »Was hat dieser Hänfling dir verraten?«
Aber Trix achtete nicht weiter auf sie. Er packte Ian am Kragen und verpasste ihm eine Ohrfeige. »Wie konntest du es wagen!«, schrie er.
»Dieser gemeine Feigling!«, empörte sich Annette. »Schläge machen dem nichts! Trix, mein Liebling, lass mich ihn in die Nase beißen!«
»Du hast mir einen Eid geleistet!«
»Was hat er sich geleistet?!«, sagte die Fee. »Ist ja unerhört!«
»Du musst mir Tag und Nacht dienen, ohne zu murren und zu stöhnen, ohne innezuhalten und nachzulassen!«
»Also hör mal, Trix, unter den Bedingungen gibt er garantiert bald den Löffel ab!«, bemerkte die Fee. »Du weißt, ich steh immer auf deiner Seite, aber …«
»Halt den Mund!«, brüllte Trix und Annette schwieg beleidigt.
»Ich sag doch gar nichts!«, maulte Ian mit gesenktem Kopf.
In dem Moment begriff Trix, dass Ian Annette immer noch nicht sehen oder hören konnte.
»Und das ist ja wohl das Mindeste«, sagte er schon friedlicher. »Du bist weggerannt. Und du hast mir den Empfehlungsbrief gestohlen! Das allein würde schon reichen, dich zu köpfen! Nein, das wäre zu viel der Ehre. Dich zu hängen! Oder im Fluss zu ertränken!«
Ian erschauderte.
»Aber das Wichtigste«, fuhr Trix fort. »Du hast angefangen, diesen Mist zu verkaufen! Du hast mir Schande gemacht! Das Verhalten eines Knappen fällt schließlich auf seinen Herrn zurück!«
»Das wollte ich nicht«, jammerte Ian. »Trix … das wollte ich nicht. Ich hatte Angst davor, mit dir nach Dillon zu gehen. Ich bin nicht adlig, ich bin nicht daran gewöhnt, für Ruhm und Ehre zu sterben. Und den Empfehlungsbrief hast du sowieso nicht gebraucht! Dir kommt es auf Wahrheit an, nicht auf Reichtum!«
»Und? Hast du deinen Reichtum gefunden?«, höhnte Trix.
Mit seinem Schweigen gestand Ian seine Niederlage ein.
»Warum hast du dich auf diese Banditen eingelassen?«
»Woher sollte ich wissen, dass es Banditen sind? Ein Händler wie jeder andere auch, aus Samarschan … der Kräuter verkauft. Ich habe ihm zwei Tage lang geholfen, die Kräuter zu mischen. Dann hat er mir kleine Päckchen gegeben und gesagt, ich soll mich hier hinstellen und sie verkaufen. Erst am dritten Tag bin ich dahintergekommen, was da drin ist … Ehrenwort!«
»Dein Ehrenwort! Pah!«
»Bringst du mich jetzt um?«, fragte Ian ängstlich. »Oder rufst du die Wache? Dann bring mich lieber um, ja! Es heißt, die, die Rauschkraut verkaufen, landen in den Stollen … und da …«
»Sag mal, Trix«, meldete sich die Fee zu Wort, »willst du etwa behaupten, es sei verwerflich, mit Kräutern zu handeln?«
»Was soll ich bloß mit dir machen?« Endlich ließ Trix Ian los. Der stand wie angewurzelt da und machte keine Anstalten zu fliehen.
»Was steht denn in den Chroniken?«
Trix dachte nach. »Allerlei«, räumte er schließlich ein. »Hipphu der Gütige zum Beispiel hat seinen treulosen Knappen an den Schwanz einer Stute gebunden.«
»Und die ist dann losgerast?«, fragte Ian erschrocken.
»Schlimmer. Er hatte das Pferd vorher zwei Wochen lang gemästet und nicht einmal aus dem Stall gelassen. Danach haben alle den Knappen für einen Latrinenreiniger gehalten. Den Gestank ist er nie wieder losgeworden! Es gab aber auch Guideon den Strengen, der hat seinen Knappen einfach ausgepeitscht und ihm dann verziehen!«
»Strenge hat mir schon immer besser gefallen als Güte«, versicherte Ian eifrig.
»Trix«, mischte sich Annette erneut ein, »Trix, sei gut! Liebe muss die Welt regieren! Nicht Krieg, sondern Liebe!«
»Du schweig lieber!«, sagte Trix – und das galt sowohl für Ian wie auch für Annette. »Gut. Ich … ich verzeihe dir. Ich bestrafe dich, aber ich verzeihe dir.« »Und wie sieht die Strafe aus?«, fragte Ian misstrauisch.
»Sie wird streng ausfallen«, sagte Trix grinsend, dem der verwilderte Garten und der dreckige Fußboden in Sauerampfers Haus einfielen. »Und jetzt lass uns gehen!«
»Aber ich darf mich doch nicht von meinem Arbeitsplatz entfernen!«
»Wie bitte?«
»Außerdem«, Ian spähte mit ängstlichem Blick über Trix’ Schulter, »behält man mich im Auge.«
Obwohl Trix wusste, dass er gerade riskierte, auf den ältesten Trick der Welt hereinzufallen, drehte er sich um.
Ian hatte nicht gelogen.
Hinter Trix standen zwei Männer. Ein dunkelhäutiger, langhaariger Kerl, unter dessen Vorfahren sich fraglos einige Samarschaner fanden, und ein magerer Kahlkopf mit blassen, farblosen Augen. Beide waren jung, wirkten aber irgendwie verlebt. Nebeneinander sahen sie derart komisch aus, dass einem sofort angst und bange wurde.
»Was belästigst du diesen jungen Mann?«, fragte der Kahlkopf. »He? Du Knirps!«
»Der kann nicht reden«, vermutete der Langhaarige und ließ seine Finger knacken. »Der hat keine Zunge.«
»Hat er wohl! Der hat doch irgendwas gesäuselt.« In den Händen des Kahlkopfs funkelte plötzlich ein schmales Messer. Damit fing er an, sich den Dreck unter den Fingernägeln herauszupopeln. »Aber das kann man ja ändern!«
Trix schluckte. »Dieser Jüngling«, sagte er so selbstsicher wie möglich, »ist mein Kna… mein Diener. Mein flüchtiger Diener. Ich werde ihn jetzt mit nach Hause nehmen.«
»Wie spaßig«, bemerkte der Langhaarige.
»Urkomisch«, stimmte der Kahle zu.
Entsetzt begriff Trix, dass ihm keine Magie mehr helfen würde, selbst wenn er die richtigen Worte für einen Zauber fände. Einen Zauber muss man aussprechen. Und je wirksamer er sein soll, desto länger muss man sprechen (weshalb Magie nie die Welt beherrschen wird). Mit einer abgeschnittenen Zunge oder mit einem Messer in der Brust wäre das aber sehr schwer. Weil alle Magier das wissen, nehmen sie ja auch gern zwei, drei Ritter mit auf ihre Abenteuer. Die verfügen zwar nicht über die Gabe der Beredsamkeit, verstehen es dafür aber, geschickt mit ihren Klingen umzugehen.
»Meine Herren!« Annette flatterte aus Trix’ Tasche. Die weit aufgerissenen Augen des komischen Pärchens waren der beste Beweis dafür, dass die Fee nun wieder sichtbar war. »Ich sage nur: Gebt dem Frieden eine Chance! Wir wollen Liebe machen, nicht Krieg!«
»Ei-eine F-fee!«, stammelte der Langhaarige.
Wie jeder weiß, ist von einer Fee nichts Gutes zu erwarten. Vor allem dann nicht, wenn sie Gutes wünscht. Ihr Gutes endet normalerweise mit einem langen Schlaf in einem verzauberten Schloss, unangenehmen Verwandlungen in quakende oder piepsende Tiere und in den allerschlimmsten Fällen sogar mit dem aufregenden Leben als Gegenstand des täglichen Bedarfs.
»Ein bisschen Frieden! Ein bisschen Liebe! Tänze im Mondschein!«, rief Annette und gestikulierte wild mit den Armen. Bei jeder Bewegung stieg von den kleinen Fingern silbriger Staub auf, bis eine glitzernde Wolke das bedrohliche Pärchen einhüllte.
Daraufhin wuchsen dem Kahlen Haare. Sie waren zartgrün, fast wie junges Gras. Und der Langhaarige kriegte unzählige feine Zöpfe. Das Messer in der Hand des Dünnen und nun überhaupt nicht mehr Kahlen verwandelte sich in eine Tabakspfeife. Die dunkle Kleidung, bestens geeignet für zweifelhafte nächtliche Geschäfte, wich bunten, weiten Gewändern. Über den Köpfen der beiden Banditen schimmerten winzige bunte Regenbogen, und eine angenehme, wenn auch etwas eintönige Musik erklang.
»Reichen wir uns die kleinen Hände!«, rief die Fee. »Wir wollen einander lieben!«
Diese Aufforderung schien die Banditen besonders heftig zu erschrecken. Schreiend stürzten sie davon. Die Verliebten auf den Bänken schmiegten sich dagegen fest aneinander. Aus der Ferne erklang schneidend und scharf der Pfiff der Wache.
»Weg hier!«, rief Trix.
Diesmal zögerte Ian keine Sekunde und rannte ihm hinterher. Annette flog über Trix’ Kopf hinweg und lachte schallend.
»Und du hast gesagt, du kannst nichts!«, empörte sich Trix.
»Wenn ich gut gegessen habe, bring ich das eine oder andere zustande«, antwortete die Fee ohne die geringste Spur von Verlegenheit.
Natürlich verfolgte sie niemand. Die Wachposten in Dillon zählten ein Querfeldeinrennen über die Hügel der Stadt wahrlich nicht zu ihren Pflichten. Abgesehen davon war die Ordnung wiederhergestellt, die Ruhestörer in alle Winde zerstreut, weder Opfer noch Zerstörung zu beklagen. Was wollte man mehr?

Eine Stunde später, inzwischen war es tiefe Nacht und selbst die Uferpromenade wie ausgestorben, saßen Trix und Ian in der kleinen Küche im Hause des Zauberers und tranken Tee. Dank Ians Anstrengungen sah die Küche einigermaßen manierlich aus (der Gerechtigkeit halber wollen wir festhalten, dass Trix seinem Knappen ein wenig geholfen hatte, indem er zum Beispiel den Tee aufsetzte). Die keimenden Kartoffeln waren ebenso wie die verfaulten Mohrrüben aussortiert und weggeworfen worden, Pfannen und Töpfe blitzten, der Boden war gefegt. Die Mäuse, die in den letzten Monaten überall herumgesprungen waren, hatten sich in ihre Löcher geflüchtet. Kurz und gut, die beiden konnten in Ruhe essen.

»Wenn ich nur wüsste, was ich mit dir machen soll«, sagte Trix verzweifelt, nachdem er ein Glas mit gezuckerter Kirschmarmelade, das er im Schrank gefunden hatte, vertilgt hatte. »Aber mir will einfach nichts einfallen.«

»Trix, das kommt nie wieder vor!«, versprach Ian feierlich. »Ich weiß selbst nicht, was ich mir dabei gedacht habe …«

»Das meine ich doch gar nicht«, entgegnete Trix. »Wenn ich sage, dass ich dir verziehen habe, habe ich das auch. Nein, ich bin doch jetzt Magier und Zauberer!«

»Ja.« Ian schielte zu Annette hinüber, die auf der Tischkante saß und die Beinchen baumeln ließ. Sie leuchtete sanft, um sie herum schwirrten Mücken. »Ist nicht zu übersehen.«

»Wie kann ich dich jetzt in Dienst nehmen? Wenn ich ein richtiger Zauberer wäre, könntest du mein Schüler sein. Aber ein Zauberlehrling kann keine Schüler haben. Und auch keine Knappen.«

»Und Diener?«
»Das wird Sauerampfer nicht gefallen«, antwortete Trix. »Er sagt immer, dass ein Zauberer zurückgezogen leben muss, um arbeiten zu können. Deshalb hat er auch keine Diener.«
»Also wenn du mich fragst, lügt er«, sagte Ian, der aus einem fast leeren Glas Orangenmarmelade die letzten Reste herauskratzte. »Wahrscheinlich ist er bloß zu geizig.«
»Bestimmt nicht«, trat Trix für seinen Lehrer ein. »Nur arm.«
»Ein Zauberer? Arm? Der kann sich doch jederzeit Gold zaubern!«
»Eben nicht«, sagte Trix seufzend. »Warten wir ab, was er dazu sagt. Er ist gut … für einen Zauberer. Vielleicht darfst du hierbleiben, um auf das Haus aufzupassen.«
»Würd ich sofort machen!«, versicherte Ian, der seinen Blick durch die Küche schweifen ließ. »Das Dach ist solide, da regnet’s nicht durch. Und im Winter ist es hier wahrscheinlich recht warm.«
»Jungen!«, seufzte die Fee. »Worüber ihr euch so den Kopf zerbrecht! Wo doch der Mond aufgegangen ist!«
»Willst du tanzen?«, fragte Trix.
»Genau!« Die Fee strahlte. »Werdet ihr mir zugucken?«
Trix wurde verlegen. Ehrlich gesagt hatte er sich doch eine größere Fee vorgestellt, die im Mondlicht tanzt. Eine Frau wie die Fürstin Codiva. Abgesehen davon wollte er schlafen. Er ahnte noch nicht, dass er diese Nacht ohnehin kein Auge würde zutun können.
»Versteh schon«, sagte die Fee traurig. »Kaum esse ich etwas, werde ich ausgeschimpft, meine Tänze mögt ihr auch nicht … Bis morgen, Trix.«
Sie erhob sich in die Luft und flog wie ein leuchtender Schmetterling durchs offene Fenster. Dabei brummte sie derart wütend, dass sich sogar das Wachlicht in Sicherheit brachte.
»Ganz schön energisch, die kleine Dame«, sagte Ian. »Was hatte das mit dem Essen zu bedeuten?«
»Sie isst Rauschkraut«, antwortete Trix finster. »Hast du das etwa noch nicht begriffen? Wenn sie Hunger hat, ist sie wütend und bringt nichts zustande. Und sobald sie was gegessen hat, fängt sie an zu kichern und macht lauter Dummheiten. Aber jetzt lass uns schlafen gehen. Ich nehme Sauerampfers Bett, du kannst im großen Zimmer schlafen, auf dem Sofa. Oder in der Kammer für die Dienstboten, da gibt es ein Bett.«
»Kann ich nicht im Studierzimmer schlafen?«
»Nein!«, fuhr Trix ihn an. »Wo denkst du hin! Sauerampfer hat mir strikt verboten, da auch nur einen Fuß reinzusetzen. Er hat gesagt, es gebe da drin jede Menge Restemanationen von Magie. Du schläfst als Mensch ein und wachst als Elf oder Minotaurus wieder auf.«
»Quatsch!«, sagte Ian. »Der will dir nur Angst machen. Gut, dann nehm ich die Kammer, das bin ich gewöhnt.«
Trix schnappte sich eine Kerze, Ian die andere. Die beiden tapsten durch den dunklen Flur, wünschten sich eine gute Nacht und trennten sich – Ian verschwand in der Kammer neben der Eingangstür, Trix im Schlafzimmer des Magiers, einem düsteren Raum, dafür aber mit einem breiten und weichen Bett. Nachdem er sich ausgezogen und die Kerze gelöscht hatte, stand er noch ein Weilchen am Fenster und atmete die kalte, frische Luft ein. Trotz des heißen Tages war die Nacht kühl. Durch die Bäume hindurch machte er Villen und sogar die Kuppel des Fürstenpalasts aus. Der Palast und die Straßen waren hell erleuchtet, winzige Punkte von Laternen bewegten sich hin und her, das rote Licht von Fackeln flackerte und ein magisches weißes Licht leuchtete um die Kuppel des Palasts herum. Ob das jede Nacht so war? Oder hatte der Regent Hass heute einen wichtigen Empfang, von dem die Gäste gerade erst nach Hause aufbrachen?
Seufzend legte sich Trix hin und zog die Decke bis an die Ohren. Die Bettwäsche war einigermaßen sauber, wenn jemand darin geschlafen hatte, nur höchstens für ein, zwei Wochen. Auf Sauerampfers Nachthemd verzichtete Trix aber lieber. Morgen würde er Ian befehlen, Nachthemd wie Bettwäsche zu waschen. Er selbst würde zum Markt gehen und alles einkaufen, was Sauerampfer ihm aufgetragen hatte: Essen, Handtücher, Papier und Tinte, Duftkerzen, weißen und roten Wein, Seife für Hände und Haar, aromatische Salze fürs Bad …
Er war schon fast eingeschlafen, als er leise Schritte im Flur hörte. Trix hielt den Atem an. Die Schlafzimmertür quietschte.
Ian!
Wollte der schuftige Knappe ihn etwa ausrauben und wieder abhauen?
»Trix!«, rief Ian leise. »Trix, ich habe Angst! Da … da ist jemand!«
»Wo?«
»Im Stud… Studierzimmer.«
Trix’ Müdigkeit war wie weggeblasen. Er sprang aus dem Bett und zog rasch seine Hosen an. Dann tastete er die Wand ab. Bei der Ankunft hatte er entdeckt, dass der große Magier Sauerampfer in seinem Schlafzimmer nicht bloß auf Magie vertraute, sondern obendrein einen ordentlichen Knüppel bereithielt, fast so einen, wie ihn auch die Wachposten hatten. Trix packte das elastische warme Gummiholz und schob sich die Lederschlaufe übers Handgelenk. Damit fühlte er sich schon sicherer. Diesen Schurken am Pier hatte er doch auch im Stockkampf besiegt! Indem er unwissentlich einen Zauber gewirkt hatte, der ihn zu einem guten Kämpfer gemacht hatte. Soweit er wusste, hielt so ein Zauber lange vor.
»Komm!«, befahl Trix. Seine Augen hatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt, das Licht aus dem Fenster reichte ihm jetzt völlig, um sich zu orientieren. Wie er sah, war Ian nur im Hemd und barfuß.
»Erst habe ich gehört, dass jemand an der Pforte hantiert«, flüsterte Ian. »Ein Betrunkener, habe ich mir gesagt, halb so wild. Aber dann habe ich gehört, dass jemand im Studierzimmer ist … da waren leise Stimmen … Das ist die Magie, Ehrenwort! Das sind die Restimm… emonationen.«
»Das sind bestimmt nur Diebe«, sagte Trix unsicher. Sie schlichen ängstlich zur Tür des Studierzimmers. Es schien alles ruhig.
»Was ist mit dem Wachlicht?«, fragte Ian.
»Das … das haben sie gelöscht.«
»Nein, ich habe gesehen, wie es an meinem Fenster vorbeigeflogen ist, während es im Studierzimmer diese Geräusche gegeben hat …«
»Vielleicht hast du nur geträumt?«
Die Jungen blieben dicht nebeneinander stehen und lauschten in die nächtliche Stille. Natürlich ist es nachts in einem Haus nie ganz still. Draußen rascheln die Blätter an den Bäumen, durch die Ritzen pfeift der Wind, im Ofen knistern die erkalteten Kohlen, die vom Tag müden Dielen knarren leise, die Türangeln quietschen, in einer Ecke huscht eine Maus. Aber jetzt war es totenstill, wie auf einem Friedhof oder in einer Höhle.
»Da ist niemand!«, flüsterte Trix.
»Warum flüsterst du dann?«
»Dann ist es nicht so gruselig.«
»Vielleicht habe ich wirklich nur geträumt«, räumte Ian kleinlaut ein. »Komisch ist nur …«
Was genau nun komisch war, konnte er nicht mehr sagen. Im Studierzimmer klirrte und knisterte etwas. Plötzlich fiel grelles Licht unter der Tür hervor.
»Aah!«, schrie Ian aus vollem Hals.
»Aah!«, stimmte Trix ein, der genau wusste, dass es besser war, den Feind zu erschrecken, als selbst Angst zu zeigen, weshalb er auch noch mit dem Knüppel gegen die Tür schlug.
»Aah!«, antwortete es ihnen zweistimmig aus dem Studierzimmer.
Ermutigt von der Angst der ungebetenen Gäste, stieß Trix mit aller Kraft die Tür auf.
Auf Sauerampfers Schreibtisch brannte hell eine Öllampe. Daneben stand ein blonder Junge mit Schwefelhölzern, der etwas jünger war als Trix und fürstliche Kleidung in weißen und blauen Farben trug: Kniebundhosen, ein Spitzenhemd, einen runden Hut. Seinem Aussehen nach zu urteilen, war der Junge ein Page oder ein Hilfsdiener bei Hofe. Hinter ihm versteckte sich ein kleiner Junge mit schwarzem Haar, der verdreckt war und weit schlichter gekleidet – und obendrein ein guter Bekannter von Trix!
»Klaro!«, rief Trix. »Du?«
Der Junge mit dem allzu stolzen Namen Hallenberry, der den Spitznamen Klaro bevorzugte, machte den Mund zu. »Klaro. Ich«, sagte er kleinlaut. »Was machst du denn hier?«
»Ich wohne hier«, brüllte Trix so selbstbewusst wie möglich. »Das ist das Haus meines … meines Lehrers. Ich kümmere mich darum. Und was machst du hier?«
Klaro sah seinen Gefährten flehend an. Der hielt noch immer das brennende Schwefelholz in der Hand, gerade erreichte das Feuer seine Finger. Der Junge quiekte, warf das Zündholz weg, trat es aus und lutschte gleichzeitig an seinem verbrannten Finger.
»Warum quiekst du wie ein Mädchen? War doch bloß der Finger!«, knurrte Ian verächtlich hinter Trix’ Rücken. »Aber echt, ein Fürstendiener und steigt in fremde Häuser ein! Schämen solltest du dich! Wir rufen jetzt die Wache, dann lässt dich Hass im Pferdestall auspeitschen!« Trix fing einen aufmerksamen Blick des blonden Jungen auf und geriet irgendwie in Verlegenheit. Er hatte den Eindruck, der Junge habe sich absichtlich verbrannt, um ein paar Sekunden herauszuschlagen und sich eine Antwort einfallen zu lassen.
»Sprich!«, befahl Trix. »Und du, Klaro, schweig! Offenbar habe ich einen Fehler gemacht, als ich dir am Pier geholfen habe! Die hätten dich ruhig vermöbeln sollen!«
»Er war es, klaro, der das Boot verkauft hat und dann den Jungen vom Markt besiegt hat«, sagte der Junge schnell, bevor er endgültig verstummte.
Der fürstliche Diener zog nun doch den Finger aus dem Mund und klopfte seinem Gefährten auf die Schulter. »Sei jetzt ruhig, Hallenberry«, sagte er. »Jungen, ich bitte euch um Verzeihung für mich und meinen Freund. Wir wussten nicht, dass in diesem Haus jemand lebt. Wir brauchten eine Unterkunft für die Nacht, morgen wären wir fortgegangen, ohne irgendeinen Schaden angerichtet zu haben.«
Trix schnaubte. Der Junge hatte eine sehr schöne Stimme, selbst wenn sie noch kindlich und zart klang. Und er sprach so manierlich, dass sofort klar war: Er war bei Hofe aufgewachsen.
»Wie kannst du es wagen, uns Jungen zu nennen!«, sagte er absichtlich grob. »Wer bist du überhaupt?«
»Ich bin Tien. Ich bin der Lehrling des Barden.« Der Junge nahm den Hut vom Kopf, um sich feierlich und mit abgespreizten Armen zu verbeugen.
Trix neigte daraufhin ebenfalls den Kopf. Wenn du vierzehn Jahre lang Etikette gebüffelt hast, reagierst du auf bestimmte Handlungen und Gesten automatisch.
»Es tut mir leid … edler Herr. Dürfte ich Euren Namen erfahren?«
»Trix.«
»Trix!« In Tiens Augen blitzte etwas auf. »Trix Solier, der Erbe des Co-Herzogs Rett Solier?«
»Ja«, gab Trix nach kurzem Zögern zu.
»Ich habe Euch erkannt, Eure Durchlaucht, Co-Herzog Trix Solier.« Tien verbeugte sich noch einmal, diesmal besonders tief. Aber auf die Knie ging er immer noch nicht. »Ich habe Euch während des Besuchs Eures ruhmreichen Vaters beim Regenten Hass gesehen.«
»Was bin ich schon für ein Co-Herzog?«, fragte Trix bitter. »Sator Gris hat mir den Thron genommen. Ich bin nur ein Waisenkind auf der Flucht … und ein Zauberlehrling … An dich kann ich mich übrigens nicht erinnern.«
»Wie sollte der edle Trix Solier sich auch an jeden Diener im Fürstentum Dillon erinnern?«, entgegnete Tien respektvoll. »Ich erinnere mich jedenfalls an Euch. Ihr wart sehr gut zu den Dienern und habt die Fürstentochter aufgeheitert, als sie traurig war.«
»Ach das«, winkte Trix ab. »Sie hat sich gelangweilt und war deshalb traurig. Jetzt sollte sie sich mal einmischen, wo Sator die Macht an sich gerissen hat!«
»Aber es regiert doch Hass«, sagte Tien finster. »Und der Regent Hass … sorgt sich nicht um Gerechtigkeit.«
»Um die sorgt sich niemand«, brummte Trix. »Gut, was machst du in meinem Haus, Barde? Versuch mich zu überzeugen, dass ich nicht die Wache rufe! Du hast zwei Minuten!«
Klaro fasste Tien an der Hand. »Vielleicht sollten wir …«, setzte er an.
»Schweig!«, unterbrach Tien ihn. »Edler Trix, verzeiht uns unser Eindringen. Die Sache ist die, dass ich den Regenten Hass gegen mich aufgebracht habe. Heute hat er eine Delegation der Vitamanten von den Kristallenen Inseln empfangen und während der Gespräche war ich zufällig in der Nähe … Ich verstehe die Sprache der Vitamanten, in der sie sich unterhalten haben …«
»Und?«
»Ich habe erfahren, dass der Regent Hass einen Verrat plant. Er will die Fürstentochter Tiana, deren Vormund er ist, dem Oberhaupt der Vitamanten geben, dem Zauberer Evykait. Dann wird das Fürstentum Hass zufallen und Evykait zur Herrscherfamilie gehören. Der König ist nicht mehr jung, und es heißt, dass er keine Kinder haben kann. Die Erben Evykaits und Tianas würden dann den Thron für sich beanspruchen.«
»Tiana? Sie ist doch selbst noch ein Kind, das mit Puppen spielt!«, rief Trix aus. »Obwohl … nein, sie ist natürlich gewachsen. Trotzdem … wenn die Vitamanten einen neuen Krieg anfangen … und sich den Thron nehmen … wird Hass auch untergehen. Begreift er das denn nicht?«
»Er ist alt«, sagte Tien traurig. »Tief in seinem Herzen ist er vermutlich nicht böse. Aber er will auf keinen Fall sterben. Und wenn die Vitamanten an der Macht sind und er ihnen treu dient, kann er noch wer weiß wie lange leben.
Hundert Jahre oder tausend. Evykait ist angeblich über siebenhundert Jahre alt!«
»Aber das ist Hochverrat!«, presste Trix heraus. »Das ist der übelste Verrat, den es je gab! Wie kann er nur? Hass ist doch ein Edelmann!«
»Alle wollen leben«, fiepte Klaro. »Papa sagt oft: Blut ist rot, sei es das des Aristokraten, sei es das des Bauern.«
Trix wandte sich Ian zu, der bisher kein Wort gesagt hatte. Sein Knappe starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Was hast du?«
»Dann … dann stimmt es? Du bist der echte Trix?«
»Bist du wirklich so blöd, Ian? Baron Galan hat mich doch auch erkannt!«
»Gut … aber der Baron ist schlau. Er hat dich Trix genannt und mich …« Ian wurde rot. »Ich … Eure Durchlaucht! Wenn ich gewusst hätte, dass du der echte Trix bist, wäre ich nicht weggerannt!«
Trix machte eine wütende Handbewegung und wandte sich wieder Tien zu. Der wartete geduldig. »Da sitzt du wirklich in der Tinte, Barde«, sagte er. »Ein einfacher Mann darf sich nicht in eine Verschwörung einmischen. Warum hat der Regent dir nicht auf der Stelle die Kehle aufgeschlitzt?«
»Weil ich da schon weggerannt war. Ich habe dem Regenten erst einen Becher mit Honigwein über den Kopf gezogen, dann die Porzellanurne mit der Asche des großen Ritters Andronas und ihn am Ende noch mit vier Tellern beschmissen. Die waren aber aus Gold und sind nicht kaputtgegangen, die haben ihm nur ein paar blaue Flecke beschert. Der Regent ist in ein Zimmer geflohen und hat die Tür hinter sich verriegelt. Da, wo ich war, gab es einen geheimen Gang … in den Garten. Von dem weiß der Regent nichts.«
»Verstehe.« Trix nickte. »Deshalb sind auf dem Berg so viele Menschen mit Fackeln … Du hast Glück gehabt.«
»Stimmt«, sagte der Lehrling des Barden. »Hallenberry hat mir geholfen. Du brauchst ihn nicht anzugucken, als ob er noch ein Baby ist. Er ist ein guter Freund.«
Hallenberry, der sich inzwischen offenbar mit seinem heldenhaften Namen angefreundet hatte, lächelte, wurde aber gleich wieder ernst. Nun sahen beide, Tien und Hallenberry, Trix erwartungsvoll an.
Zu wissen, dass von deiner Entscheidung wirklich etwas abhängt, ist immer ein schönes Gefühl. Selbst in jenen glücklichen Zeiten, als Trix der rechtmäßige Erbe des Co-Herzogs Rett Solier war, hing von seinen Entscheidungen nämlich kaum etwas ab. Sicher, für die Kinder, die sich geprügelt oder einen Streich verzapft hatten und sich »zum Urteil« bei Trix einfinden mussten, war das alles sehr ernst. Da Trix einsah, dass ein Herrscher sowohl streng wie auch milde sein musste, gab er sich stets Mühe, alle Einzelheiten eines Falls zu erfassen, bevor er sein Urteil fällte. Aber selbst bei einem Fehlurteil war das Schlimmste, was hätte passieren können, dass ein Kind, das (diesmal) nicht ganz schuldig war, eine Tracht Prügel bezog.
Aber ein Pakt mit den Vitamanten? Hochverrat? Ein unglückliches Mädchen, das einem siebenhundert Jahre alten Greis zur Frau gegeben werden sollte? Trix runzelte die Stirn, als er an Tiana dachte. Etwas beunruhigte ihn … etwas Vages, Unverständliches …
»Wir müssen die Fürstin retten«, entschied er.
»Sie ist ein Mädchen, das ist nun mal ihr Schicksal!«, giftete Tien. Wahrscheinlich, dachte Trix, hat er sich in die Fürstin verguckt. Armer Kerl!
»Ja und?«, hielt Trix dagegen. »Sie ist ein Mädchen und sie ist in Not. Außerdem sind unsere Länder benachbart und Nachbarn müssen sich gegenseitig helfen. Wir müssen den König davon unterrichten. Und Tiana aus dem Schloss befreien.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Tien.
»Warum nicht?«
»Also … solange ich auf der Flucht bin, wird Hass nichts gegen sie unternehmen. Hilf mir nur, mich zu verstecken. Ich will mich zum König durchschlagen und ihm alles erzählen.«
»Feigling!« Wie konnte dieser nette Junge, der dem wütenden Hass so tapfer entflohen war und ihm sogar ein paar Veilchen verpasst hatte, sich bloß weigern, die Fürstin zu retten? »Abgesehen davon würde dich der König sowieso nicht anhören! Selbst mich, den Co-Herzog, würde er nicht ohne Weiteres anhören! Aber dich? Den Lehrling eines Barden. Alle Barden sind Lügner!«
»Das stimmt nicht«, sagte Hallenberry. »Mein Papa ist auch Barde! Und er ist kein Lügner! Klaro!«
»Alle Barden sind Lügner, außer deinem Papa.« Trix verzichtete großmütig auf einen Streit mit dem kleinen Tunichtgut. »Nein, Tien, so geht das nicht. Ich gewähre dir … äh … Obdach und Schutz. Und dann warten wir auf die Ankunft von meinem Lehrer, Magister Sauerampfer, und bitten ihn …« Mit finsterem Blick verstummte er.
»Was ist?«, fragte Tien.
»Die Zauberer!«, brummte Trix. »Der Regent hat einen Haufen Zauberer. Die finden dich im Nu!«
Daraufhin zog Tien lächelnd ein Amulett unterm Hemd hervor, eine goldene Scheibe an einer feinen Kette. Die Scheibe war gewebt, anders konnte man es nicht nennen, und zwar aus allerfeinstem Golddraht, der zu einem aparten Muster verschlungen war, vielleicht auch zu stilisierten Buchstaben.
»Ich habe ein Schutzamulett. Mich und diejenigen, die bei mir sind«, Tien zog Hallenberry an sich, und der Junge schaute wie eine Katze, die gestreichelt wird, »kann man auf magische Weise nicht finden. Wie hätten wir es sonst überhaupt aus dem Palast schaffen sollen?«
»Oder an dem Wachlicht vorbeikommen? Klaro!«, sagte Hallenberry. »Wir haben mit Absicht ein Haus ausgesucht, vor dem ein Wachlicht war.«
»Woher hast du das … dieses …?« Trix konnte den Blick nicht von dem Amulett lösen. »Das ist ein teures Stück!«
»Ich habe es ihr gestohlen. Der Fürstin.« Tien zuckte mit den Achseln. »Was hatte ich schon zu verlieren?«
»Du schreckst wirklich vor nichts zurück! Aber was, wenn in dem Amulett ein Wachzauber eingebaut gewesen wäre? Der dafür gesorgt hätte, dass einem Dieb die Hände zu Staub zerfallen? Lässt du es mich mal ansehen?«
»Nein.« Tien steckte das Amulett rasch unters Hemd zurück.
»Soll ich es ihm abnehmen?«, fragte Ian. »Erst bittet er um Hilfe und dann spielt er sich so auf!«
Der kleine Hallenberry trat mit geballten Fäusten vor, als wolle er seinen Freund verteidigen, auch wenn er keine Chance hatte.
»Wenn ich es Euch gebe, finden mich die Magier sofort!«, sagte Tien. »Verlangt es also bitte nicht!«
Trix wusste, dass Tien die Wahrheit sagte. »Wenn ihr keine Angst habt«, sagte er, »dann könnt ihr hier schlafen, im Studierzimmer. Aber ihr dürft morgen früh nirgendwo hingehen. Ihr werdet in der ganzen Stadt gesucht.«
»Klaro. Aber weshalb werde ich gesucht?«, fragte Hallenberry verwundert. »Von mir weiß niemand was. Klaro, wer braucht mich denn schon?«
»Das lässt sich ändern«, sagte Trix. »Der Pferdestall muss nämlich ausgemistet werden. Also, sind wir uns einig?«
»Was geht denn hier vor?«, erklang es da empört an Trix’ Ohr. »Hat man Töne!«
Trix drehte sich um und blickte Annette finster an. »Hör auf zu schimpfen! Das sind … unsere Gäste. Sie stehen unter meinem Schutz.«
»Gäste?«, fragte die Fee giftig. »Schöne Gäste! Deine treue Fee braucht sich nur einmal eine Minute zu entfernen, ein wenig mit ihren Freundinnen im Mondlicht zu tanzen, und schon holst du dir ein Mädchen ins Haus und springst halb nackt vor ihr herum! Schämen solltest du dich!«
»Was für ein Mädchen?«, fragte Trix verwirrt.
»Mach mal deine Augen auf! Ha, ha, ha!« Die Fee stieß ein dämonisches Lachen aus. Leider war ihre Stimme zu schwach, als dass es den gewünschten Effekt gehabt hätte. »Willst du etwa behaupten, du kannst ein Mädchen, das Hosen und ein Hemd trägt, nicht von einem Jungen unterscheiden?«
»Das liegt an den magischen Emonatien«, stöhnte Ian und formte mit dem Daumen und dem Zeigefinger der linken Hand rasch einen Ring, um sich gegen den bösen Blick zu schützen. »Was für ein Unglück! Erst war er ein Junge, jetzt ist er ein Mädchen!«
Trix sah die Fee an.
Dann Tien.
Dann stieß er Ian in die Seite, ließ sich auf ein Knie nieder, wie es sich für einen Ritter gehört, und sagte: »Eure Hoheit, Fürstin Tiana, verzeiht Eurem unwürdigen Diener die respektlosen Worte und sein Verhalten. Verfügt über mein Leben!«
Der Lehrling des Barden beobachtete ihn neugierig und seufzte. »Steht auf, Eure Durchlaucht, edler CoHerzog Trix«, sagte Fürstin Tiana schließlich. »Ich und mein illegitimer Bruder Hallenberry überlassen uns Eurem edlen Schutz.«
Die Fee schwieg und schlug mit den Flügeln. Ian schluckte geräuschvoll und versuchte, sein Hemd bis zu den Knien hinunterzuziehen.
Trix biss sich auf die Lippe. Wo waren nur seine Augen gewesen? Jungenkleidung und kurze Haare (jetzt sah Trix auch, dass die Haare von einer unerfahrenen Hand hastig und ungleichmäßig geschnitten waren) – und schon erkannte er die Fürstin nicht mehr!
»Ich habe große Angst, Trix«, sagte die Fürstin und ihre Stimme klang mit einem Mal kläglich und erschreckt. »Sehr große. Alles, was ich dir von Hass und den Vitamanten erzählt habe, ist wahr. Du wirst mich doch beschützen, oder?«

3. Kapitel